Gestörtes Essverhalten und Essstörungen im Ausdauersport. Ein fließender Übergang?

Gestörtes Essverhalten und Essstörungen im Ausdauersport. Ein fließender Übergang?

Ausdauersport- die Bedeutung von Körpergewicht und Energiezufuhr

Selbstoptimierung, maximales Leistungsniveau und durchtrainiertes Aussehen. Die Körpergröße, das Körpergewicht und die Körperzusammensetzung sind wesentliche Einflussfaktoren für die sportliche Leistungsfähigkeit. Besonders Ausdauersportarten zeichnen sich durch einen direkten Zusammenhang von Leistung und Gewicht aus. In diesen Sportarten lassen sich im Leistungs- und Breitensport häufig gestörte Essverhaltensweisen beobachten, die bei Athleten und Trainern wenig Beachtung finden (Wanke et al., 2007). Trotz der langfristigen Folgen, die ein hohes gesundheitsschädliches Potenzial, insbesondere für den weiblichen Organismus, darstellen, werden Essstörungen im (Leistungs-) Sport oftmals tabuisiert.

Wir haben bereits die Folgen eines relativen Energiedefizits im Sport (RED-S) in zwei Artikeln ausführlich aufgegriffen. In diesem Artikel beschäftigen wir uns mit der Entstehung von Essstörungen und dem Zusammenhang mit Ausdauersport.

Gestörtes Essverhalten und klinische Essstörungen- Wo liegt der Unterschied?

Essgestörte Verhaltensweisen sind in unserer Gesellschaft weit verbreitet. Subklinische Essstörungen/ Gestörtes Essverhalten wie gezügeltes Essen, Diät halten, Mahlzeiten auslassen, und allgemein die Dysfunktionalität von Essen, sollen nach Untersuchungen an Schülern und Studierenden in knapp einem Drittel der Bevölkerung vorkommen (Klinik Lüneburgerheide, 2015).

Essgestörtes Verhalten hat mit einer Essstörung als Erkrankung nur an der Oberfläche einiges gemeinsam: Es sind die sichtbaren Symptome und die überkritische Einstellung dem eigenen Körper gegenüber. Beim essgestörten Verhalten liegt jedoch keine schwere psychische Störung zugrunde (Klinik Lüneburgerheide, 2015). Aus zunächst scheinbar unproblematischen Veränderungen des Essverhaltens (subklinische Formen), können sich im weiteren Verlauf bei entsprechender Prädisposition durchaus klinische Formen (Vollstufen) entwickeln (Wagner, 2021). Klinische Essstörungen werden mithilfe der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) von der World Health Organization (WHO) klassifiziert. Dieses Klassifikationssystem wird weltweit genutzt, um Krank (Herpertz, 2022).

Formen der Klinischen Essstörungen

Es werden verschiedene Formen der klinischen Essstörungen definiert.

  • Anorexia nervosa: Signifikant niedriges Körpergewicht in Relation zu Größe und Entwicklungsstand (BMI) unter 18,5 kg/m2 bei Erwachsenen, Angst vor Gewichtszunahme, niedriges Körpergewicht wird als Idealbild angesehen, reduzierte Kalorienzufuhr, exzessiver Sport, Erbrechen
  • Bulimia nervosa: regelmäßige Essanfälle, die durch das Folgen von gegenregulatorischen Verhaltensweisen (z.B. Erbrechen, Laxantien, Sport) gekennzeichnet sind.
  • Binge-Eating-Störung: häufige, wiederkehrende Essanfälle (einmal pro Woche oder öfter für die Dauer mehrerer Monate).
  • PICA: Pica ist charakterisiert durch den regelmäßigen Verzehr von nicht essbaren Substanzen (z.B. Ton, Erde, Kreide, Gips etc.).
  • Rumination und Regurgitation: Diese Störung liegt vor, wenn eine mangelnde Gewichtszunahme, Gewichtsverlust oder andere eindeutige Gesundheitsstörungen über einen Zeitraum von mindestens einem Monat auftreten.
  • Andere nicht näher bezeichnete Fütter- oder Essstörungen und ,,Nicht näher bezeichnete Fütter- oder Essstörungen“

Wechselbeziehung von Ausdauersport und Essstörungen

Studien zeigen, dass Essstörungen im Sport häufiger auftreten als innerhalb der nichtsporttreibenden Bevölkerung (Wanke et al., 2007). Besonders weibliche Athletinnen, die Ausdauer- oder Aussehenssportarten (magere/ schlanke Sportarten) betreiben, sind einem erhöhten Risiko für Essstörungen und Körperunzufriedenheiten ausgesetzt, unabhängig vom Wettkampfniveau (Glazer, 2008). Zudem gehen Bußmann et al. (2004) von einer hohen Dunkelziffer bezüglich Essstörungen im (Leistungs-)Sport aus, insbesondere in den Ausdauersportarten. Sundgot-Borgen und Torstveit (2004) zeigten, dass es eine Prävalenz von Essstörungen in Ausdauersportarten von 24% gibt. Zudem ist die die Prävalenz bei Athleten höher als bei Kontrollpersonen, bei weiblichen Athletinnen höher ist als bei männlichen Athleten und in schlankheits- und gewichtsabhängigen Sportarten häufiger vorliegt als bei anderen Sportarten.

Gewichtsabnahme als Leistungssprung

In der Anfangsphase einer Gewichtsabnahme ergibt sich oftmals eine Leistungssteigerung, wenn das Optimum im Kraft-Last-Verhältnis erreicht wird. Häufig wird dieses Optimum im Bestreben, die Leistungsfähigkeit noch weiter zu verbessern, überschritten und die Leistungskurve sinkt. Hieraus entsteht eine Unzufriedenheit, der innere und äußere Leistungsdruck nimmt zu und es wird weiter versucht, Gewicht zu verlieren. Ab diesem Punkt kann sich das zunächst nur leicht veränderte Essverhalten verselbständigen und ein Teufelskreis beginnt.

Sportliche Leistung oder Gewichtsreduktion – Was ist der Fokus?

Eine spannende Frage ist, welche Funktion der Ausdauersport bei essgestörten Athleten einnimmt. Bei Anorexia-nervosa- Patienten lässt sich ein stark ausgeprägter Bewegungsdrang feststellen. Diese Hyperaktivität und das exzessive Sporttreiben ist ein empirisch nachgewiesenes Merkmal der Anorexia nervosa. Personen mit einer Anorexia nervosa nutzen oftmals Ausdauersport, um Kalorien zu verbrennen und demnach Körpergewicht zu verlieren. Bei Sportlern steht primär die sportliche Leistung im Fokus. Die Gewichtsreduktion wird demnach häufig genutzt, um die Leistung im Ausdauersport zu verbessern. Es besteht ein fließender Übergang und eine enge Wechselbeziehung zwischen Ausdauersport und Essstörung. In der folgenden Tabelle sind beide Perspektiven dargestellt.

Perspektivenvergleich in Anlehnung an (Poppelreuter, 2000, 197f.)

Motivation

Primärer Fokus: Sportliche Leistung

Primärer Fokus: Essstörung

Möglichkeit zur Gewichtsreduktion

-

+

Leistungsverbesserung

+

-

Schlankheitsideal im Sport

+

+

Konkurrenzdenken

+

-

Sportliche Leistung steht im Fokus

+

-

Körpergewicht und Essen stehen im Fokus

-

+

 

Ersichtlich wird, dass zwar der primäre Motivationsgrund beider Typen variiert. Dennoch liegen Schnittmengen hinsichtlich Motivation, Symptomen und Anzeichen vor. In unserer Abbildung ist die Verkettung der Entwicklung vom primären (Leistungs-)Ausdauersport-Treiben in die Anorexia nervosa abgebildet.

Mögliche Verkettung des primären Ausdauersport-Treibens in eine Anorexie

Mögliche Verkettung des primären Ausdauersport-Treibens in eine Anorexie

Da sich teilweise im Sport nur partielle Züge einer Anorexia nervosa zeigen, spricht man in diesen Fällen von einer Anorexia athletica oder Sportanorexie (Bußmann et al., 2004).

Die sportinduzierte Essstörung - Anorexia athletica

Der Begriff der Anorexia athletica wurde von Pugliese et al. (1983) geprägt, um zu verdeutlichen, dass diese Sonderform der Essstörung ausschließlich sportinduziert ist. Auch Sundgot-Borgen (1993) hat mit dem Begriff der Anorexia athletica die Problematiken von Essstörungen bei Sportlern beschrieben, die weder eindeutig einer Anorexia nervosa noch einer Bulimia nervosa zuzuordnen waren. Bis heute ist die Anorexia athletica jedoch keine eigene, medizinisch anerkannte Essstörung (Bußmann et al., 2004).

Bei der Anorexia athletica spricht man von einem sportbedingten gestörtem Essverhalten. Die Verringerung der Körperfettmasse zielt auf die erhöhte Leistung ab und nicht auf das Aussehen oder einer übermäßigen Sorge um die Körperform. Eine übermäßige Sorge um die Körperform kann sich jedoch entwickeln, insbesondere wenn Sportler ihren Fettanteil mit anderen erfolgreicheren Sportlern vergleichen. Der Beginn einer Diät oder eines übermäßigen Trainings ist freiwillig oder wird auf den Empfehlungen der Trainer und Betreuer durchgeführt (Sudi et al., 2004). Das Ausmaß des Körpergewichtsverlustes ist nicht nur von der geringen Energiezufuhr, sondern auch von Umfang und Intensität des Trainingszyklus abhängig. Ein abnormales Essverhalten, d.h. eine Energiezufuhr, die zu niedrig ist, um den Energieaufwand zu kompensieren, ist bei einer anorexia athletica vorübergehend und kann nach Wettkampfphasen abgesetzt werden (Sudi et al., 2004).

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Prävention und Sensibilisierung von Essproblematiken sind im Sport notwendig

Eine Früherkennung erster Anzeichen und anhaltender Verhaltensmuster, die folglich eine Reduzierung des Körpergewichts hervorrufen (restriktives Essverhalten, selbstinduziertes Erbrechen, übertriebene körperliche Aktivität) sind elementar wichtig, um Athleten vor den gesundheitlichen Folgen zu schützen. In diesem Zusammenhang ist zu ergänzen, dass auch Menschen mit normalem Gewicht an einer Essstörung leiden oder ein gestörtes Essverhalten aufweisen können. Diese Problematik kann nicht anhand des Gewichts oder des BMIs diagnostiziert werden. Das Bewusstsein für die Vielzahl an Anzeichen und Symptomen, die vorhanden sein können, kann die frühzeitige Erkennung von Essstörungen erleichtern. Zudem sind die Faktoren, die eine Essverhaltensstörung auslösen vielfältig und von individuellen, familiären, biologischen und sozio-kulturellen Einflüssen abhängig (Bundesministerium für Gesundheit, 2023). Präventive Aufklärung über gesundheits- und leistungsbezogene Ernährung, Körperzusammensetzung, negative physiologische und leistungsbezogene Folgen von einer geringen Energieverfügbarkeit ist sportartübergreifend notwendig. Die Sensibilisierung des Leistungs- und Breitensports hinsichtlich Essstörungen steht zurzeit noch am Anfang. Wir hoffen mit diesem Beitrag einen Teil dazu beigetragen zu haben.

Hinweis: Dieser Artikel ersetzt keinen ärztlichen Rat. Im Zweifel sollte unbedingt Fachpersonal aufgesucht werden.

Literaturverzeichnis

(1) Bundesministerium für Gesundheit. (2023). Essstörungen. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/e/essstoerungen.html

(2) Bußmann, G., Lebenstedt, M. & Platen, P. (2004). Ess-Störungen im Leistungssport: Ein Leitfaden für Athlet/innen - Trainer/innen - Eltern und Betreuer/innen. Bundesinst. für Sportwiss. https://www.bisp.de/SharedDocs/Downloads/Publikationen/Athletenbrosch%C3%BCren/Ess_Stoerungen.pdf?__blob=publicationFile&v=1

(3) Ewers, S. M., Halioua, R., Jäger, M., Seifritz, E. & Claussen, M. C. (2017). Sportpsychiatrie und -psychotherapie – gestörtes Essverhalten und Essstörungen im Leistungssport. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin/German Journal of Sports Medicine, 2017(11), 261–268. https://doi.org/10.5960/dzsm.2017.305

(4) Glazer, J. L. (2008). Eating disorders among male athletes. Current sports medicine reports, 7(6), 332–337. https://doi.org/10.1249/jsr.0b013e31818f03c5

(5) Herpertz, S. (2022). Handbuch Essstörungen und Adipositas (3. Auflage). Springer. https://livivo.idm.oclc.org/login?url=https://ebookcentral.proquest.com/lib/zbmed-ebooks/detail.action?docID=7077833

(7) Hoyden, S., Köhler, K. & Wasserfurth, P. (2022). RED-S. Sportärztezeitung(1), 106–108.

(8) Klinik Lüneburgerheide. (2015). Essstörungen und essgestörtes Verhalten.

(9) Poppelreuter, S. (Hrsg.). (2000). Nicht nur Drogen machen süchtig: Entstehung und Behandlung von stoffungebundenen Süchten. Beltz Psychologie Verlags Union.

(10) Pugliese, M. T., Lifshitz, F., Grad, G., Fort, P. & Marks-Katz, M. (1983). Fear of obesity. A cause of short stature and delayed puberty. The New England journal of medicine, 309(9), 513–518. https://doi.org/10.1056/NEJM198309013090901

(11) Reinking, M. F. & Alexander, L. E. (2005). Prevalence of Disordered-Eating Behaviors in Undergraduate Female Collegiate Athletes and Nonathletes. Journal of athletic training, 40(1), 47–51.

(12) Sudi, K., Ottl, K., Payerl, D., Baumgartl, P., Tauschmann, K. & Müller, W. (2004). Anorexia athletica. Nutrition (Burbank, Los Angeles County, Calif.), 20(7-8), 657–661. https://doi.org/10.1016/j.nut.2004.04.019

(13) Sundgot-Borgen, J. (1993). Prevalence of eating disorders in elite female athletes. International journal of sport nutrition, 3(1), 29–40. https://doi.org/10.1123/ijsn.3.1.29

(14) Sundgot-Borgen, J. & Torstveit, M. K. (2004). Prevelance of Eating Disorders in Elite Athletes. Clinical Journal of Sport Medicine, 14(1), 25–32.

(15) Wagner, E. (2021). Essstörungen. In E. Wagner (Hrsg.), Psychische Störungen verstehen (S. 129–139). Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-63156-0_11

(16) Wanke, E., Petruschke, A. & Korsten-Reck, U. (2007). Essstörungen und Sport. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, 55(1), 374–375.


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